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Pierre Vago

L'Architecture d'aujourd'hui und Pierre Vago, das weltweit angesehene Architekturmagazin und sein langjähriger Chefredakteur.

Von Manuel Cuadra

L’Architecture d’aujourd’hui und Pierre Vago, das weltweit angesehene Architekturmagazin und sein langjähriger Chefredakteur: Das sind zwei feste Größen, die man auch heute noch spontan miteinander verbindet und die in einem ein warmes Gefühl der Nähe und der Bewunderung, ja der Dankbarkeit aufkommen lassen. Beide, die französische Fachzeitschrift und der Mann, der praktisch von der ersten Stunde an inhaltlich für ihren Erfolg verantwortlich war – von 1931 bis 1948 als Leiter der Redaktion, von 1948 bis 1975 als Vorsitzender des Redaktions­beirats ?, sind gemeinsam groß geworden. Von den dreißiger Jahren an haben sie im Bereich der Architektur jene Pionierleistungen möglich gemacht und auch selber erbracht, die von der technischen und künstlerischen Intelligenz so dringend erwartet wurden. Auf einer publizistischen Ebene haben sie die Architekten begleitet und dazu beigetragen, daß man weit über die engen Grenzen Europas hinaus auch von dieser Zeit als einer heroischen Periode sprechen kann.

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Wie L’Architecture d’aujourd’hui, so ist auch die Union Internationale des Architectes eng mit Pierre Vago verbunden. Es war Vago, der die UIA konzipierte, sie gemeinsam mit Freunden von 1945 an organisierte und 1948 mit Kollegen aus 27 Ländern gründete, ihr bis 1968 als Generalsekretär diente und seitdem ihr Ehrenpräsident ist. Mit gleichem Engagement führte Vago auch die Gründung des International Council of Societies of Industrial Design, ICSID, und des Comité International des Critiques d’Architecture, CICA, an. Im Gegensatz zur heutigen Vorstellung solcher Organe als bürokratische Apparate, handelte es sich vor allem bei der UIA ursprünglich um einen wichtigen Kristallisationspunkt für das Engagement von Architekten aus aller Welt. Dementsprechend hatten dort auch nicht selbstherrliche Funktionäre das Sagen, sondern fachlich kompetente Kollegen. Zumindest wollte das Pierre Vago so. In dieser Hinsicht liegt sein Beitrag auch nicht in der Schaffung von Organisationen an sich, sondern in den Werten, die sie unter seiner Leitung verkörperten und in der Leistung, die sie erbrachten. Internationalität und Fortschritt – Begriffe, die heute von der Wirtschaft und der Politik besetzt werden -, das waren für Pierre Vago keine Floskeln. Internationalität war – und ist – für ihn Freundschaft zwischen den Menschen, den Nationen, den Kulturen, den Religionen. In dem internationalen Miteinander sah er eine Quelle von Wissen und Inspiration, aber auch eine politische Notwendigkeit. Fortschritt wiederum war für ihn immer sehr konkret mit einer Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen verbunden und ließ sich durch die Gestaltung der Umwelt mit den Mitteln der technischen und künstlerischen Intelligenz erreichen. Vago beanspruchte für die Architektur, im Dienste der Menschen zu stehen, ja der Menschheit als Ganzes.

Die Ursprünge solcher Ideale sind – wie sollte das anders sein – biographisch. Angefangen hatte alles 1910 in Budapest. Von Geburt Ungar, wurde aus Pierre Vago infolge der Emigration 1918 nach Rom und 1928 weiter nach Paris nach der Staatsangehörigkeit zu urteilen zwar ein Franzose, von der Überzeugung her aber ein Weltbürger. Waren es der drohende Zerfall des Landes und nackte wirtschaftliche Not, die seine Familie gleich nach dem Ersten Weltkrieg aus ihrer Heimat vertrieben, so stellte der freiwillige Abschied vom faschistischen Italien eine ganz persönliche Konsequenz des inzwischen achtzehnjährigen Abiturienten dar. Nicht daß es ihm oder den seinen schlecht gegangen wäre. Integrationsschwierigkeiten hatte man nie gehabt, finanziell war man vor allem durch die Tätigkeit der Mutter als Sängerin und Gesanglehrerin, später auch durch den Erfolg des Vaters  als Architekt – er zählte 1926 zu den vier ersten Preisträgern bei dem Wettbewerb für den Palast der Nationen in Genf – über die Runden gekommen. Und auch gesellschaftlich stand man gut da, nicht zuletzt durch die Beziehungen zu prominenten Künstlern. Es waren vielmehr jene Parolen, die intellektuelle Unterwerfung und blinden Gehorsam forderten – credere, obbedire, combattere hieß es damals -, mit denen sich der junge Pierre so gar nicht identifizieren konnte, und die ihn in das «Land der Freiheit und des Fortschritts», wie er es zu jener Zeit empfand, ziehen ließen.

Auch in Frankreich fühlte er sich bald Zuhause. Die Identifikation mit den Menschen war in Paris von Beginn an so intensiv, wie sie es auch in Rom stets gewesen war. Pierre Vago begann sein Studium der Architektur an der ihm allseits empfohlenen, für ihn jedoch viel zu konservativen École des Beaux Arts, der EBA. Letztlich war es Langeweile, die ihn schon nach wenigen Monaten nach einer Alternative suchen ließ. Zielstrebig und selbstbewußt wie er war, bat er gleich die renommiertesten Kollegen um Rat. Von Auguste Perret und Michel Roux-Spitz bekam er zu hören, daß die EBA ein notwendiges Übel sei und sich kaum umgehen ließe. Le Corbusier erteilte ihm die kaum aufbauendere Empfehlung, schleunigst zu flüchten, und zwar in die Praxis. Schließlich war es Henri Sauvage, der ihm den erlösenden Hinweis auf die École Spéciale d’Architecture, der ESA, gab, einer verhältnismäßig neuen Schule, in der man so nützliche Dinge wie moderne Bauweisen und Gebäudetypen beigebracht bekommen konnte. Robert Mallet-Stevens lehrte dort, später auch Perret. Noch 1928 vollzog Vago den Wechsel, durfte das erste Studienjahr überspringen und schloß bereits 1932 sein Studium ab. Ausgestattet mit dem Diplom der ESA eröffnete er 1934 sein eigenes Büro und bestritt von dann an seine Existenz als freier Architekt.

Parallel zum Studium begann er zu schreiben, und zwar zunächst Musik-, dann Architekturkritiken. Davon sollte er ein Leben lang nicht mehr abkommen. Als er 1930 von den Vorbereitungen zur Gründung der L’Architecture d’aujourd’hui erfuhr, sprach er bei André Bloc vor, dem Direktor, und durfte ab sofort als Redakteur mitarbeiten. Von Heft 4 an ist sein Einfluß unübersehbar. Bereits ein Jahr später avancierte er zum Chef einer Redaktion, deren einziges ständiges Mitglied er selbst war. Von Beginn an stammten die meisten Beiträge der AA von den überall rekrutierten freien Mitarbeitern. Es galt, fortschrittliche Leistungen zu dokumentieren, wo auch immer diese erbracht wurden. Was die Ausrichtung dieser Leistungen anging war man offen. In dieser Hinsicht war der Name der AA Programm. Man wollte sich eben mit der «Architektur des heutigen Tages» insgesamt auseinandersetzen und sich nicht von vorn herein auf die Moderne oder eine andere stilistisch definierte Tendenz beschränken. Dank dieser Einstellung stieg die Auflage rasch von anfänglich 1.200 Exemplaren auf 1.600 im Jahr 1931, 10.000 zum Zeitpunkt der kriegsbedingten Unterbrechung und 22.500 im Jahr 1948. Ursprünglich dazu gedacht, französische Informationsdefizite zu kompensieren, trug L’Architecture d’aujourd’hui damit weltweit zum Fortschritt der Architektur bei.

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Zu den Nebenprodukten der publizistischen Tätigkeit gehörte die Durchführung diverser Veranstaltungen. Als langfristig von größter Tragweite sollten sich die Réunions Internationales d’Architectes, RIA, erweisen. Ursprünglich ausgelöst durch das Angebot einer sowjetischen Tourismusagentur an die AA, gemeinsam Studienreisen in die UdSSR zu organisieren, wurden daraus dank Pierre Vago internationale Workshops. So kamen 1932 im Rahmen der ersten RIA nach vielen Jahren der Isolierung sowjetische Architekten mit Kollegen aus dem Westen zusammen. Es folgten weitere Reisen nach Italien, wo man sich mit der Architektenausbildung beschäftigte, und nach Mitteleuropa, wo das Thema «Nationale oder regionale Architektur» im Vordergrund stand. Im Jahr 1937 traf man sich aus Anlaß der Weltausstellung gemeinsam mit Le Corbusiers Congrès Internationaux d’Architecture Moderne, CIAM, in Paris. Der Zweite Weltkrieg unterbrach, wie so vieles, auch die Réunions. Die Idee solcher Treffen aber ging nicht unter. Bereits 1948 entstand die UIA. Man war sich darüber einig, daß der Wiederaufbau den Beitrag aller Architekten erforderte, und zwar unabhängig von ihren ästhetischen Konzepten. Statt sich untereinander zu bekämpfen wollte man sich mit dem Wohnungsbau, der Industrialisierung des Bauwesens, der Ausbildung von Architekten, etc. beschäftigen und endlich Spielregeln für faire Wettbewerbe durchsetzen. Dem Gründungstreffen in London folgte noch 1948 eine erste Vollversammlung zum Thema «Der Architekt im Angesicht seiner neuen Aufgaben» in Lausanne. Langfristig wichtiger als die Vollversammlungen waren aber die Arbeitsgruppen. Unter der Regie von Vago kamen dort Fachleute zur Lösung präzise definierter Aufgaben in einem fest vorgegebenen Zeitrahmen zusammen. Lange Jahre war es die Arbeit dieser Arbeitsgruppen sowie der internationalen Workshops für junge Architekten und nicht der bürokratische Apparat, die das Image der UIA prägten.

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Hansaviertel, Berliner Interbau of 195. Photo: Horst Siegmann © Landesarchiv Berlin.

Doch auch als freier Architekt war Pierre Vago international tätig und hat große Verdienste erworben. Tatsächlich hat er sich selbst stets als Architekt verstanden und konsequenterweise alle seine anderen Positionen – die des Chefredakteurs der AA mit eingeschlossen – ehrenamtlich ausgefüllt. Weltweite Beachtung verdiente insbesondere seine unterirdische, für 25.000 Pilger ausgelegte St. Pius-Basilika in Lourdes von 1958, deren extrem flaches Stahlbetontragwerk er gemeinsam mit Eugène Freyssinet ausformte. In Deutschland realisierte er im Rahmen der Berliner Interbau 1957 den Wohnblock an der Kloppstockstraße. Dabei handelt es sich um einen achtgeschossigen, mit einer Dachterrasse ausgestatteten Stahlbetonskelettbau mit ein bis vier Zimmer großen Appartements. Auffällig sind die vielen Wohnungstypen – bei 57 Wohnungen sind es insgesamt 13 -, sowie die teilweise 4,70 Meter hohen Wohnräume. Daß eine solche funktionale und räumliche Vielfalt bei einem Rasterbau eine besondere Lösung erforderte, das läßt sich an der Westfassade mit ihren versetzten Balkonen erahnen. Pierre Vago nahm den Aufwand wegen der Vorteile für die Familien und die Hausgemeinschaft in Kauf. Daß diese Vorteile auch von den Menschen erkannt und höher eingeschätzt werden als rein formale Qualitäten, das zeigt eine Meinungsumfrage unter den Bewohnern. Ihr zufolge sind die Häuser von Pierre Vago und Alvar Aalto die beliebtesten im gesamten Hansaviertel. Eine solche Bestätigung tut jedem Architekten gut, im Fall von Pierre Vago aber umso mehr, als sie die selben Wertvorstellungen betrifft, die er auch in die AA und die UIA immer einbringen wollte.

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