Von Manuel Cuadra © 2000. Photo: Wojtek Gurak. Plans: Coop Himmelb(l)au
Graue Tage sind seine Sache nicht. Erst in der Sonne, am allerbesten aber bei Nacht entfaltet der von den Architekten Wolf D. Prix und Helmut Swiczinsky vom Wiener Büro Coop Himmelb(l)au am Rande der Dresdener Innenstadt gebaute UFA-Palast seine Reize. Nur strahlender Sonnenschein vermag es dem bei fahlem Licht noch farblos und matt wirkenden Beton, dem kalten Stahl und den sich hart und verschlossen gebenden, die Wolken und die Plattenbauten der Umgebung reflektierenden Glasflächen Leben einzuhauchen und das von den Architekten inszenierte Spiel der Formen, der Schatten, der Spiegelungen und Transparenzen auszulösen.
Die Geheimnisse aber dieser Architektur und ihr eigentlicher Sinn, sie kommen nur in der Finsternis zur Geltung. Vor Sonnenuntergang noch – einer geschlossenen Blüte gleich – mehr Versprechen als Ekstase, wird aus dem Kinozentrum bei Dunkelheit das Lichtspieltheater, das es eigentlich sein soll. Sobald in der Dämmerung die materielle Beschaffenheit des Gebäudes in den Hintergrund tritt und es nicht mehr Beton, Stahl und Glas sind, die das Bild prägen, sondern allein die Intensität und Farbe der Lichter, hebt sich der Neubau von seiner Umgebung ab. Plötzlich glühen die Ankündigungstafeln im Kegel der Scheinwerfer; die blauen und roten, am Block mit den Kinosälen befestigte Neonlichter werden von weitem sichtbar; mächtige, im Foyer – dem so genannten Kristall – angebrachte Strahler lösen die enorme Stahl- und Glaskonstruktion in Nichts auf und geben den Blick frei auf das Auf und Ab der Menschen auf ihrem Weg in die Säle und wieder hinaus ins Freie. Damit nicht genug, werfen potente Projektoren Standbilder und ganze Videoclips auf die Betonwände; die letzten Unterschiede zwischen Innen und Außen werden aufgehoben; die Stadt insgesamt verwandelt sich – zumindest bis die Lichter im Morgengrauen wieder erlischen und ein neuer Zyklus seinen Lauf nimmt – in eine Traumfabrik.
Es muss allerdings so einiges stimmen, damit eine solche Vision gelebte Wirklichkeit wird. Vor allem müssen die Menschen vor Ort mitmachen, die, für die das Ganze – eigentlich – inszeniert worden ist. Wenn manche von ihnen angesichts der robusten Materialien und Konstruktionsdetails keinen großen Unterschied zwischen dem fertigen Bau und dem Rohbau erkennen wollen und immer noch an der Architekturqualität ihres neuen Nachbars zweifeln, dann vielleicht auch weil der Sommer in diesem Jahr so lange auf sich warten lässt. Spätestens die ersten lauwarmen Juliabende, wenn sich das Gebäude weit zur Petersburger Straße, zu dem noch aus DDR-Zeiten stammenden Rundkino und zum dem Neubau zugeordneten Forum im Halblicht öffnet und die Menschen den hell erleuchteten Kristall und seine Umgebung in Besitz nehmen, allerspätestens dann dürften auch die letzten Skeptiker ihre abwartende Haltung aufgeben und sich dieser besonderen Erfahrung von Stadt und von Gemeinschaft hingeben. Erst dann nämlich wird man wirklich erleben können, worum es den Architekten ging und was sie meinten, wenn sie bei der Erläuterung ihres Konzeptes nie – wie angesichts der extravagant erscheinenden Baukörper allseits erwartet – rein formale Argumente in den Vordergrund stellten sondern handfeste städtebauliche und auch funktionale Überlegungen, was sie beispielsweise meinten, wenn sie von einem «vertikalen Stadtraum» und von «liquiden Räumen» sprachen, was vor allem diese ganze avantgardistische Sprache soll – ausgerechnet hier, im konservativen Dresden.
Tatsächlich hatten es die Architekten angesichts so vieler Bedenken und auch der schwierigen Bedingungen vor Ort bei der Planung nicht leicht. Dass eine «normale», mehr oder weniger alltägliche architektonische Lösung zu viele Fragen unbeantwortet gelassen hätte, das war ihnen von vornherein klar. Wollte man die Erwartungen der Betreiber an die Rentabilität ihrer Investition erfüllen, zugleich die Vorbehalte der Bürger gegenüber dieses Eingriffs in ihre Stadt entkräften, vor allem aber die eigentliche Bauaufgabe mit ihren ureigenen städtebaulichen, funktionalen, konstruktiven und formalen Aspekten bewältigen, kam eine «einfache» Lösung für sie nicht in Frage. Komplexität also war gefragt.
Zu den städtebaulichen Schwierigkeiten, mit denen sich die Architekten auseinanderzusetzen hatten, gehörte die erst einmal unattraktive Lage auf einem räumlich schlecht gefassten, von Plattenbauten umgebenen Platz. Nun, wo das Kinozentrum in Betrieb ist und die Menschen bis tief in die Nacht anzieht, kann man sich kaum noch die hier bis vor kurzem dominierende Trostlosigkeit vorstellen. Nur der Durchgangsverkehr von der Straßenbahnhaltestelle an der breiten Petersburger Straße in Richtung Prager Straße brachte damals ein wenig Bewegung in diese ansonsten dunkle Ecke. Dagegen galt es etwas zu tun: Als erstes um das negative Image des Standorts aufzupolieren, dann zur Überwindung seiner Randlage und schließlich um seine räumliche Definition zu verbessern. Dafür sollte der Bau einerseits ein Akzent setzen, sprich sich möglichst auffällig in den Vordergrund stellen, andererseits aber in einer zurückhaltenden Art und Weise die Front zur Petersburger Straße schließen, das alles – selbstverständlich – ohne den Durchgang in Richtung Prager Straße zu behindern.
Auf diese, auf den ersten Blick gegensätzlichen Ansprüche reagierten die Architekten mit einer außergewöhnlichen Gebäudeform. In der von Coop Himmelb(l)au gefundenen Lösung ruht der entlang der Petersburger Straße platzierte Block mit den Vorführräumen – wie auf dem Lageplan und im Schnitt zu erkennen – nicht in seiner gesamten Länge auf dem Boden, sondern nur zu etwa einem Drittel. Der Rest wurde hochgestellt; der Kassenraum zum Beispiel wurde verglast, lässt sich im Eingangsbereich komplett öffnen und ist damit also als Passage zu verstehen; die spitz ausgebildete Ecke schließlich kragt in luftiger Höhe weit in das Forum hinein und gibt auf diese Art den Weg auf den Platz frei. Angenehmer Nebeneffekt dieser Lösung war, das sich mit der Grundfläche auch die Größe des von der Stadt zu erwerbenden Grundstücks und damit auch die Gesamtkosten des Projektes reduzieren ließen. Der Kristall selbst wurde durch die Verwendung von Glas tagsüber relativ diskret gehalten, verwandelt sich aber nachts in eine gigantische Laterne, die den Ort kaum wirkungsvoller markieren könnte.
Die Gliederung des Gebäudes in einen geschlossenen Block mit den Vorführräumen und dem transparenten Kristall mit den Treppenanlagen eröffnete also verschiedene Möglichkeiten, sie beinhaltete aber auch Schwierigkeiten, die bewältigt werden mussten. Von Vorteil war, dass sich der in Stahlbeton realisierte Block durch die Auslagerung der Treppen in den Kristall und die Vermeidung von Durchbrüchen in den Decken äußerst wirtschaftlich ausführen ließ. Zudem konnten die durchgehend geneigten Ebenen mit den Sälen so ineinander verkeilt werden, dass sie zusammen einen extrem steifen Körper ergaben. Die Ingenieure Klaus Bollinger und Manfred Grohmann vom Frankfurter Büro Bollinger & Grohmann erkannten die natürliche Steifigkeit des Gebildes und bedienten sich ihrer um die großen Spannweiten und Auskragungen in den Griff zu bekommen.
Von Nachteil an der kompakten Ausführung des Blocks war allerdings, dass die Vorführräume in bis zu sechzehn Meter Höhe platziert werden mussten. Statt diesem Problem mit mechanischen Treppen und damit auch mit großem Energieaufwand zu begegnen, lösten die Architekten es architektonisch. Sie bildeten nämlich den Raum des Kristalls als phantastische «Felsformation», ja als spannender Weg zwischen mächtigen «Klippen» – in einer befindet sich der Behindertenaufzug, die anderen wurden als Projektionsflächen konzipiert – und über «Hochebenen» – den Podesten und oberen Gängen der Treppenanlage – bis hinauf zu einer schon von unten, wenngleich immer nur ausschnittsweise sichtbaren «Wolke», die sich aus der Nähe schließlich als ein in der Luft hängender, filigraner Doppelkegel aus Stahlkabeln und Blech entpuppt, in dem eine Caféterrasse eingerichtet wurde. Es ist also die pure Lust auf dieses von den Architekten erfundene und allein mit baulichen Mitteln erzählte Drama, die die Besucher die immerhin 93 Stufen bis in den obersten Saal – bewusst oder nicht – hinauf treibt, oder, anders ausgedrückt, der nackte Wunsch, an diesem Erlebnis von Raum und Architektur teilzuhaben. Geheimnisvoll bleibt die Konstruktion übrigens bis zu Schluss und immer wieder, gleich wie oft man hinauf und wieder hinab steigt, gleich auch, zum wievielten Mal man das Kino besucht.
Einmal gefunden, galt es diesen von den Architekten aus dem Gefühl und dem Bauch heraus entwickelten Mikrokosmos konstruktiv zu definieren. Dass sich eine solch komplexe Lösung überhaupt statisch berechnen lässt, das bewiesen die Ingenieure Bollinger & Grohmann. Sie gingen streng von der vorgegebenen Form aus und untersuchten das Stahlgerüst auf seine Stabilität. Der erste Durchgang ergab noch zahlreiche Schwachstellen in den kastenförmigen Profilen, die in der Computergrafik rot gekennzeichnet wurden. Die punktuelle Abhängung des Stahlgerüsts von dem Betonblock und die zusätzliche Abtragung von Lasten über die großen im Raum stehenden «Klippen» brachte die endgültige Lösung, wie die nur noch aus blauen Stäben bestehende Computergrafik beweist.
Dass eine Lösung wie die des Kristalls, die sicherlich das eine oder andere im engeren Sinn nicht unbedingt nötige Elemente enthält, nicht die billigste sein kann, ist auch angesichts ihrer vielen Vorteile klar. Wenn die Baukosten den üblichen Rahmen von brutto DM 11.000 pro Sitzplatz dennoch einhielten, dann weil die Bauherren es den Architekten überließen, mit den Kosten kreativ umzugehen, sprich hier zu sparen um dort mehr auszugeben und so ein Paket zu schnüren, das in jeder Hinsicht überzeugt. Für eine Verlagerung der Kosten zugunsten der räumlichen Großzügigkeit entschieden sich die Architekten auch als es um die konstruktiven Details ging. Es passte nämlich in ihr Konzept, nur wenige und alltägliche Materialien und einfachste Bauweisen und Verbindungsformen zu verwenden. Mangels edler Baustoffe und einer aufwendigen handwerklichen Verarbeitung, liegt der Reiz ihrer Lösung in der Selbstverständlichkeit und Echtheit, die die industriell hergestellten Bauteile ausstrahlen, vor allem aber – erneut – im Raum, in der Architektur, in der Inszenierung insgesamt.
Das werden mit der Zeit sicherlich auch die Menschen in Dresden erkennen. Hören sie erst einmal damit auf, sich durch alles ihnen auf den ersten Blick fremd erscheinende provoziert und bedroht zu fühlen, öffnen sie mit ihren Herzen auch ihre Augen, werden sie entdecken, dass sie es beim UFA-Palast von Coop Himmelb(l)au bei allem avantgardistischen Impetus und bei aller Kraft mit einer sich sensibel in seiner Umgebung einfügenden, delikaten Konstruktion von großer poetischer Kraft zu tun haben, die nicht allein ihre Stadt bereichert, sondern vor allem ihr eigenes Leben.
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